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 | Erwin Rousselle Yin und Yang vor ihrem Auftreten in der Philosophie | 
Die große Einheit, in der für das chinesische Weltgefühl alles  zusammenklang – trotz der bunten Mannigfaltigkeit, die die animistische  Grundanschauung zugleich in sich trug –, barg unter anderem auch von alten  Zeiten her Ansätze wie z. B. „Himmel und Erde“, an die sich eine dualistische  Auffassung, ja eine dialektische Polaritätsphilosophie anschließen konnte,  natürlich nur, ohne den Rahmen des Ganzen, ohne die letzte Zusammenfassung –  das Weltgefühl des chinesischen Menschen – zu sprengen. Aber eben jene  dualistische Auffassung vom Yin und vom Yang tritt bei kritischer Betrachtung  erst sehr spät in unsern Gesichtskreis, nämlich etwa in der Han-Zeit, und über  die ursprünglichen Wortbedeutungen, über die Zeit des Auftretens der Worte als  Fachausdrücke der Weltanschauung und endlich über die alten Schriftzeichen und  Wortlaute möge hier einiges gesagt sein.
    Ob jene dualistische Auffassung geschichtlich nicht eine lange  halbmythische Vorstellungsreihe zur Voraussetzung hat, die dann bei einem der  Völker, aus denen die chinesische Nation der Han-Zeit durch einen ungeheuren  Sinisierungsprozess zusammenschmolz, vorhanden und uralt gewesen sein mag, oder  ob sie von Zentralasien kommend und unter iranischem Einfluss gewachsen in  China eine neue Heimat fand und hier natürlich eine eigene ideengeschichtliche  Entwicklung nahm, das bleibe völlig dahingestellt. Wir besitzen nicht genügend  Material, um diese Frage der Vorgeschichte der Idee eindeutig zu beantworten.
    Nun hat der bekannte verstorbene Reformer und geistreiche  Gelehrte Liang Ki Tschau in der Dung Fang Dsa Dschï [1] (Eastern Miscellany) bereits 1923 eine textkritische – chinesisch geschriebene –  Untersuchung veröffentlicht, die das Alter der Yin-Yang-Philosophie eindeutig  klärt und die zur Grundlage aller weiteren Untersuchungen zu machen ist.
    Die Worte Yin und Yang, wenn auch in früher phonetischer  Gestalt, sind selber natürlich uralt, vorklassisch – es bedeutet (wie wir  später noch sehen werden) Yin „beschattet, dunkel“ und Yang „beleuchtet, hell“ –,  aber ihre Verwendung zur Bezeichnung zweier Weltprinzipien ist, wie Liang Ki  Tschau nachweist, (frühestens auf Ende Dschou, wahrscheinlich aber) erst auf  die Han-Zeit anzusetzen.
    Eine statistische Untersuchung, die Liang Ki Tschau anstellt,  führt ihn zur Gewinnung wichtiger Grundlagen für die Beurteilung der ganzen  Altersfrage. Der Grundtext des „Buchs der Wandlungen“ (I Ging), dessen Zeichen  doch nach späterer Meinung vollständig auf Yin- und Yang-Strichen beruhen  sollen, gebraucht das Wort Yin, und zwar in der Bedeutung „dunkel“, nur einmal,  das Wort Yang überhaupt nirgends. Im „Buch der Lieder“ (Schi Ging) kommt Yin 18  mal vor, Yang 14 mal, die Zusammenstellung Yin-Yang ein einziges Mal. Im „Buch  der Urkunden“ (Schu Ging) kommen Yin und Yang je dreimal vor. An sämtlichen  Stellen dieser alten – in ihrem Grundstock vorklassischen – Bücher werden die  Worte Yin und Yang lediglich für „dunkel“ und „hell“ verwandt, – ohne die  geringste Beziehung zu einer dualistischen Weltauffassung! In dem alten  Ritenbuch I Li begegnen uns die Ausdrücke Yin und Yang überhaupt nicht. Soviel  über die vorklassische Literatur. Erwähnt sei noch, dass bei den Resten andrer  alter Literaturstücke aus dieser Zeit das Gleiche zutrifft.
    Eine philosophische Bedeutung von Yin und Yang scheint sich  zuerst anzukündigen – falls die Stelle alt und echt ist – ein einziges Mal bei  Lau Dsï, nämlich in dem Satz: „Die zehntausend Wesen tragen (hinten) das Yin  und hegen (vorn) das Yang“ (Ode 42). Das ist die einzige Stelle, und es ist  fraglich, ob – selbst wenn die Textstelle alt ist – hiermit gleich zwei  Weltprinzipien gemeint seien. Erwähnt sei außerdem bei dieser Gelegenheit, dass  die Datierung des Lebens von Lau Dsï äußerst fraglich ist. Vieles spricht  dafür, dass er – entgegen der Tradition – später als Konfuzius anzusetzen ist.
    In dem uns vorliegenden Text von Dschuang Dsï, dessen Alter in  den meisten Stücken sehr schweren Bedenken unterliegt, wird zuerst die  Behauptung aufgestellt: „Das Buch der Wandlungen ist die Lehre von Yin und  Yang.“ Ähnliches behaupten gelegentlich auch die älteren Kommentare zum I Ging,  die aber, wie allgemein angenommen wird, nicht auf Konfuzius zurückgehen,  sondern eine Reihe von Jahrhunderten später anzusetzen sind. Erst die spätere  Zeit, die die endgültige Redaktion des Buchs der Wandlungen und seiner  Kommentare gegeben hat, fixiert die Bedeutung der beiden Arten Striche in jedem  Hexagramm als Yin und Yang und schiebt damit dem Haupttext diese dualistische  Anschauung über zwei Weltprinzipien als Voraussetzung unter. Die Striche waren  jedoch ursprünglich zweifellos nur Gegensätze des alltäglichen Lebens wie ja  und nein, stark und weich, bewegt und unbewegt, sich ausdehnen und zusammenziehen,  vorwärtsgehen und zurückgehen, schließen und öffnen. Eine eigentliche  Yin-Yang-Philosophie, die zwei metaphysische Weltprinzipien meint, dürfte sich  erst in der Han-Zeit entfaltet haben. Soweit Liang Ki Tschau.
    Nun sei hierzu ergänzend ausgeführt, dass die Yin- und  Yang-Striche in den Zeichen des „Buchs der Wandlungen“ nach Richard Wilhelm –  der aber sonst sich ziemlich innerhalb der chinesischen Tradition hält – daher  kommen, dass ein ungebrochener Strich – einfach die bejahende, günstige Orakelantwort  bedeute, ein gebrochener Strich – – die verneinende, ungünstige [2].  Durch Zusammenstellung zweier solcher Striche, wobei die Reihenfolge des  Platzes von unten nach oben eine qualifizierende Bedeutung hat, erhält man vier  Zeichen als differenzierte Ausdrucksmöglichkeit. Durch Hinzufügung eines  weiteren Striches die acht Hauptzeichen, die Ba Gua, die nun zum Ausdruck  bestimmter Naturerscheinungen dienen und auf diese Weise die mythische  Grundlage einer Weltauffassung bieten. Durch Kombination der acht Trigramme  untereinander erhält man die acht mal acht oder vierundsechzig Zeichen des  Buchs der Wandlungen. Das ist eine genügende Zahl von Möglichkeiten, um beim  Orakelnehmen der Buntheit des Lebens gerecht zu werden. Dadurch, dass das Buch  nicht nur verkündet, was etwa eintreffen kann, sondern auch Ratschläge des  Verhaltens zur Abwendung oder Förderung der kommenden Entwicklung gibt, ist es  nicht nur ein Orakelbuch, sondern  auch ein Weisheitsbuch. Diese sehr  natürliche Erklärung Wilhelms hat zweifellos etwas Einleuchtendes für sich.  Bemerkenswert ist dabei, dass die Yin-Yang-Theorie der Han-Zeit von Richard  Wilhelm überhaupt nicht zur Erklärung der Zeichen herangezogen ist, sondern  sämtliche vierundsechzig Hexagramme nichts weiter als die möglichen – je nach  der Zahl und der Anordnung der beiden Stricharten verschiedenen – Kombinationen  von „Ja“ und „Nein“ des Orakelbescheids darstellen.
    Im Übrigen bringt Wilhelm außerhalb der „Einleitung“ an  verschiedenen Stellen seiner Ausgabe auch zwei andere Anschauungen der  chinesischen Tradition. Nämlich einmal, was die Chinesen in den Hexagrammen als  – auf Strichzeichnung reduzierte – Abbilder von Gegenständen sahen (wobei er  dahingestellt lässt, ob es wirklich Abbilder sind, oder ob die Chinesen die  Gegenstände in die Bilder hineingesehen haben), und zweitens bringt er in der  Übersetzung der großen Kommentare natürlich auch die Yin-Yang-Theorie der  späteren Zeit (z. B. a. a. 0., I, S. 243). Die Prinzipien der drei von Wilhelm  vorgetragenen Anschauungen lassen sich zunächst nicht miteinander vereinigen,  und wir dürfen wohl annehmen, dass die von Wilhelm in seiner „Einleitung“  vorgetragene Erklärung von ihm als die richtige, den ursprünglichen Zustand bezeichnende,  angesehen worden ist, während er demgemäß die Ähnlichkeit der Zeichen mit  gewissen Gegenständen nicht als Abbilder der Objekte, sondern als ein  In-die-Zeichen-Hineinsehen der Objekte aufgefasst haben muss und desgleichen  die Yin-Yang-Theorie als späteren 3 Erklärungsversuch an Stelle des einfachen orakelhaften Ja–Nein. Man wird sagen  können, dass die Anschauung Richard Wilhelms in der vorgetragenen  Zusammenstellung und Auffassung ein Ganzes bildet und eine durchaus  ungezwungene überzeugende Erklärung liefert.
    Nun ist aus dem Nachlass August Conradys eine Arbeit „Yih-King-Studien“  erschienen 4,  in denen er nachzuweisen sucht, dass das Buch der Wandlungen „nichts anderes  ist als ein altes Wörterbuch“.
    Die zu den 64 Zeichen gehörigen Stichwörter entsprechen  inhaltlich den moralpolitischen Anschauungen der Dschou-Zeit. Die Zeichen  selber aber sollen eine alte Schrift darstellen, und zwar vielleicht die  Schrift der im westlichsten China den Dschou vorangehenden Giang 5.  Es ist hier nicht der Ort, auf die von gewagten Hypothesen und logischen  Sprüngen nicht freie Arbeit des geistvollen Conrady näher einzugehen. Immerhin  gesteht er doch zu, eine Reihe von Angaben gefunden zu haben, dass das Buch „doch  nur ein altes Orakelbuch war“ 6.  Dass von dieser angeblichen alten Schrift nicht mehr und nicht weniger als 64  Zeichen ausgewählt und in Linien dargestellt wurden, ergibt sich für ihn aus  der mathematischen Tatsache, dass mehr Variationen bei einem Hexagramm nicht  möglich sind 7 (die Erklärung der 64 als Kombinationen „der acht Hauptzeichen – Ba Gua –  untereinander scheidet für ihn aber aus!). Den so äußerst natürlichen Schluss,  dass bei der Benennung der einzelnen Zeichen die Chinesen zum Teil Gegenstände  oder alte Schriftzeichen in die  Hexagramme hineingesehen haben, weist er mit der Begründung ab, dass ein  großer Teil der Hexagramme abstrakte Begriffe darstellt, z. B. Hex. 14 Da Yu 8 (der Besitz von Großem). Ich kann auch diesen Schluss nicht bündig finden – er  gilt eben nur für einen Teil der Zeichen –, sehe aber den bleibenden Wert der  zitierten Arbeit Conradys in den übrigen Ausführungen, die sich nicht auf das  Schriftbild der Hexagramme, sondern auf das Philologische beziehen. Hier zeigt  er uns an einzelnen Beispielen, dass die mannigfachen Bedeutungen eines Wortes  vermutlich die Assoziationen hervorgerufen haben, die wir nunmehr in dem  Grundtext des Buches zur Erklärung der Bilder und der Striche wiederfinden. Das  ermöglicht uns ein psychologisches Verständnis des Buches. Im Übrigen aber ist  ihm der zwingende logische Beweis nicht geglückt, dass die Zeichen nicht doch  auf einem Aufbau des orakelmäßigen Ja- und Nein-Striches, beziehungsweise auf  der Kombination der Ba Gua untereinander beruhten. Doch scheint ihm diese  Theorie wenigstens – wenn er von seiner Hypothese eines Wörterbuchs von 64  Stichwörtern absieht – als einzige in Betracht zu kommen 9,  so dass die ganzen Striche die langen und die gebrochenen die kurzen  Achilleazweige wären. Völlig abwegig aber, so dürfen wir aus dieser Stelle  wohl, wie auch aus seinen Grundanschauungen vermuten, scheint ihm offenbar die  spätere chinesische Auslegung, dass der Dualismus der beiden Striche und damit  aller Zeichen des Buchs der Wandlungen ursprünglich irgendetwas mit der  Yin-Yang-Theorie zu tun gehabt hätten 10.  Hierin müssen wir ihm zweifellos zustimmen, während mich die logisch nicht  vorstellbare und durch die vorgebrachten Beweisversuche nicht einmal  wahrscheinlich gemachte Idee eines Wörterbuchs von 64 Zeichen (selbst wenn die  zu den Zeichen gehörigen Benennungen in allen ihren Bedeutungen durchgenommen  werden) nicht zu überzeugen vermag.
    Was nun die älteste erschließbare Bedeutung der Worte Yin und Yang anlangt, so ergeben alle alten  Textstellen, dass Yin das im Schatten Liegende, Dunkle bezeichnet und Yang das  von der Sonne Beschienene, Helle. Das Schuo Wen Gie Dsї gibt für Yin das  schattige Südufer des Flusses (die großen Ströme Chinas fließen im Allgemeinen  von West nach Ost!), Yang das Nordufer, das im Sonnenschein liegt.
    Dem entsprechen nun auch ganz und gar die alten Schriftzeichen, die wir hier bringen.  Yin und Yang zeigen beide vorne den Radikal (Deuter) 170, das Bild eines  Berghangs mit drei Terrassen. Dieser Radikal war nicht unbedingt notwendig, wie  die älteren Formen zeigen.
  
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